Die Kunst des Fügens (Auszüge)

(Das zweisprachige Buch „Die Kunst des Fügens – über Tanztheaterimprovisation“ kann zum Preis von 22 € inkl. Versandkosten per E-Mail bestellt werden: info@ronaldblum.de)

Vorwort

Viele Wege führen zur Improvisation:

Von den Anweisungen der französischen Tanzmeister des Barock „à la caprice“ zu tanzen und damit den Tänzen reizvolle Varianten, persönlichen Ausdruck und Flair zu verleihen, über die extrem expressionistisch orientierten Zurufe „go out…out…out!!!“, mit denen Laban-Lehrerinnen noch vor wenigen Jahren ihren Schülern das Maximum an spontaner Selbstdarstellung abverlangten, bis hin zu dem Einfall Merce Cunninghams, Improvisationsaufgaben vom Fallen der Würfel bestimmen zu lassen und so eine Methode aleatorischer Improvisation zu entwickeln, von der unmittelbaren Motivation, die beispielsweise von einer Gruppe afrikanischer Musiker ausgeht und die keiner weiteren Anregungen und Spielregeln bedarf, bis hin zur Kontaktimprovisation und nun auch zur „Kunst des Fügens“ in der Tanztheaterimprovisation von Ronald Blum reicht die Vielfalt der Zugänge zur Improvisation, um nur einige wenige zu nennen.

Alle Wege führen zum Ziel, aber zu welchem?

Wenn Tanz nicht nur Ausdruck des individuellen Tänzers, sondern auch Spiegel kultureller, sozialer und politischer Strömungen einer Zeit ist, so zeigt auch jeder dieser Ansätze zur tänzerischen Improvisation, welche Erfahrungen sich sein jeweiliger „Erfinder“ mit Kreativität und Technik, Gruppenstrukturen und Führungsanspruch, mit Persönlichkeitsentwicklung und Qualitätsbewusstsein, mit Freiheit und Bindung, Autorität und Demokratieverhalten gemacht hat und wie diese Erfahrungen zu Zielen pädagogisch-künstlerischer Arbeit transformiert wurden.
Daraus ergibt sich die Frage, welche Erscheinungsformen unserer Zeit wir in Blums Ansatz zur tänzerischen Improvisation entschlüsseln können?

Individualität und/ oder Gemeinschaft, Selbständigkeit und Einordnung, Leitungsfunktion und künstlerische Verantwortung spielen eine auffallend wichtige Rolle und ergänzen sich gegenseitig. Die angestrebte künstlerische Qualität der Improvisation erfordert „emanzipierte“ Gruppenmitglieder, die sowohl individuell als auch für die Gruppe handeln können und von daher auch immer wieder zur wechselnden Übernahme der Leitung befähigt sind. Ist das nicht auch Ziel jedes verantwortlichen sozialen Verhaltens in unserer Zeit?

Sich Einlassen auf das Paradoxon der Energie. Die Begegnung mit der „Energie“, die man nicht durch Anstrengung erzwingen, sondern der man nur durch Loslassen wie auch durch innere Disziplin den Weg bereiten kann, entspricht der Öffnung westlichen Denkens für östliche Erfahrungswissenschaften wie Yoga oder Tai-chi. Setzt man statt Energie Prana oder Chi, so ist die Parallelität fraglos.

Vernetzung. Ein Gruppenkunstwerk, und als solches versteht Blum Tanzimprovisation, kann nur entstehen, wenn jeder mit jedem in Kontakt ist, wenn die gegenseitige Wahrnehmung durch hohe Präsenz sofortige Reaktion, d.h. Zusammenspiel, Kontrast oder Neutralität ermöglicht. „Jeder soll mit jedem verkabelt sein“. In welchen Bereichen unseres Lebens wird dies heute nicht als unabdingbare Notwendigkeit erklärt?

Flexibilität und Interdisziplinarität in Anwendungsbereichen und Gestaltungen („Konzepten“). Von freier Improvisation und Improvisation zu Aufgabenstellungen, über teilweise ausgearbeitete Improvisation verdichtet sich Planung und Konkretisierung bis zur weitgehend ausgearbeiteten Form, die der (offenen) Choreographie sehr nahe kommt. Die Vielzahl dieser Varianten wie auch unterschiedliche Aufführungsorte (Kirchen, Landschaften, Museen, Maschinenhallen, Ausstellungsräume etc.) erinnern an die Intentionen der Multifunktionalität in der modernen Architektur. Auch zu anderen Kunstformen sind die Übergänge fließend (Lichtdesign, Musik, Theater, Text etc.). Womit man sich vernetzen kann, mit dem kann man in Informationsaustausch, vielleicht sogar in Beziehung treten. Dass dies aber nicht „auf die Schnelle“ zu machen ist, dass langjährige tänzerische Einzel- und Gruppenarbeit und gezieltes Improvisationstraining dafür als Voraussetzungen gefordert werden, zeigt den Qualitätsanspruch, den Blum mit seiner Tanztheaterimprovisation verbindet.
Das Buch stellt den eigenen Entwicklungsprozess kritisch und reflektierend dar. Wer sich auf das Mitdenken einzulassen vermag, wird merken, dass viele neue Wege zur Improvisation aufgetan werden, denen zu folgen zum Abenteuer gemeinsamen künstlerischen Gestaltens werden könnte.

Barbara Haselbach
(o. Univ. Prof. für Tanz, Universität Mozarteum Salzburg)

1. Einleitung

1.1. Intention

Mein Anliegen ist es, den Lesern etwas von der Kunstfertigkeit und dem Leistungsvermögen der Improvisation– und speziell der Tanztheaterimprovisation– zu vermitteln.

In meinem bisherigen Tätigkeitsfeld– das ist seit 1992 vor allem mein Essener Studio SCALA11– konnte ich viele Anhänger für die Tanztheaterimprovisation finden. Auch folgten meine Gruppen und ich selber immer wieder Einladungen von verschiedenen Veranstaltern– z.B. Museen, Theatern, Kirchen– und konnten so die Tanztheaterimprovisation in ein weiteres Umfeld tragen.

Versuche, diese Arbeit durch Tourneen, Vortragsreihen und Workshops in noch größerem Maße bekannt zu machen, waren bislang nicht so erfolgreich, wie ich es mir gewünscht hätte. Den Grund dafür sehe ich darin, dass das Interesse an Improvisation nach dem Boom in den siebziger und vor allem achtziger Jahren wieder abgenommen hat: Die Haltung von Anhängern und Befürwortern, also von Publikum, Schülern und vor allem Entscheidungsträgern wie Veranstaltern und Schulleitern, ist nach anfänglicher Aufgeschlossenheit und Begeisterung für die Improvisation in eine vorsichtigere und mitunter sogar ablehnende Haltung umgeschlagen.

Diese Entwicklung ist verständlich, denn Improvisation ist häufig mit hohen Ansprüchen, aber in unprofessioneller oder weniger überzeugender Weise praktiziert worden. Dabei waren es nicht nur Hobbytänzer, die dem Ruf der Improvisation geschadet haben, sondern auch Choreographen, ausgebildete Tänzer und Tanzpädagogen, die die Improvisation als „zehntes Nebenfach“ oder nur durch vereinzelte Projekte kennengelernt hatten. Es wundert niemanden, dass sie mit den Ergebnissen kaum überzeugen konnten. Oft wurde dann der Improvisation die Schuld zugewiesen, und zwar in Form von folgendem Trugschluss: „Wenn nicht einmal Profis mit Improvisation Erfolg haben, dann kann sie nicht viel taugen.“

Dass Improvisation über viele Jahre geübt werden muss, bevor die Ergebnisse überzeugen, wird dabei übersehen. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass „Improvisation“ und besonders die adjektivische Form „improvisiert“ im allgemeinen Sprachgebrauch auch Bedeutungen wie „unvorbereitet“ und „planlos“ hat, was beim besten Willen nicht an Üben denken lässt. Es sollte aber eine klare Linie gezogen werden: Während Improvisation im „landläufigen“ Sinn gerade darin besteht, spontan zu handeln, ohne dafür geübt zu haben, muss die künstlerische Improvisation erlernt und geprobt werden. Und wer sich professionelle Qualität zum Ziel setzt, sollte einen erheblichen Zeitaufwand dafür einplanen.

Joachim Kreutzkam beschrieb das Anliegen meiner Arbeit und des vorliegenden Buches nach der Lektüre des Manuskriptes folgendermaßen:
„… ich habe… Ihren Ausführungen entnommen, dass Sie für die Welt der künstlerischen Bewegung… etwas geschaffen und gestaltet haben, was wir in der Welt der Kunstmusik… vom gelungenen Jazz her kennen: die Inszenierung eines `künstlerisch überzeugenden Ereignisses´ mit den Mitteln der Improvisation…
Im Jazz genießen wir es, wenn die Akteure mit ihrer künstlerischen Individualität als Musiker zu einem gemeinsam `erzählten´ Werk finden, in dem alles `passt´– das einzelne Thema, das ihnen und uns gefällt, die Vielfalt seiner Ausgestaltung, der Rhythmus, der uns alle mit ihnen `stimmig´ macht, uns in gleichförmige Schwingungen, sozusagen `in Einklang bringt´.

Was einem Bandleader mit der komplexen Tonsprache des Jazz, der Musikimprovisation, gelingt, das gelingt Ihnen ganz offensichtlich mit der Körpersprache der Tanztheaterimprovisation…“

Folgende Zielsetzungen verfolge ich mit diesem Buch im Einzelnen: Ich möchte

  • den Leser mit anschaulichen Beispielen und Fotos neugierig machen und für die Kunst der Improvisation begeistern;
  • zeigen, dass Improvisieren geübt werden kann und dass dafür eine Technik nötig ist;
  • die von mir entwickelte „Tanztheaterimprovisation“ präsentieren;
  • einen Eindruck davon vermitteln, wie eine Gruppe zu schlüssigen und künstlerisch überzeugenden Tanztheaterimprovisationen kommen kann;
  • den Leser durch insistierende Fragestellungen mitnehmen auf eine Reise ins „Innerste“ der Improvisationskunst, mit ihm auf philosophische Fragen stoßen und Antworten erörtern;
  • Begriffe klären bzw. einführen und damit eine Verständigung über Improvisation ermöglichen und einen Beitrag zu einer sinnvollen Theoriebildung leisten.

Die Tanztheaterimprovisation ist neu in ihrer Art. Die Neuerungen sind natürlich nicht „im stillen Kämmerlein“ entstanden, sondern gehen zurück auf andere Wissensgebiete und Künste, mit denen ich im Laufe meines Werdegangs zu tun hatte. Die nächsten beiden Abschnitte sollen diese Ursprünge, Zusammenhänge und Verwandtschaften erkennbar machen.

1.2. Hintergründe und Entstehungsgeschichte

Die Improvisation entdeckte ich als zwölfjähriger. Ich hatte kaum gelernt, ein paar Töne auf dem Klavier zu spielen, als ich schon die ersten Improvisationsversuche unternahm. Jahre später begriff ich, dass ich wesentlich mehr Zeit improvisierend am Klavier– und später auch in verschiedenen Bands an den Keyboards– verbracht habe als bei klassischem Literaturspiel, obwohl es mir genau anders herum erschien: Beim Improvisieren vergingen Stunden wie Minuten, „klassisches“ Klavierspiel aber strengte mich oft schon nach Minuten an, als hätte ich Stunden gespielt.

Obwohl ich meine klassischen Übungen fortführte, später Musikpädagogik studierte und abschloss, lag mir die Improvisation mehr am Herzen. Ich war in eine Tanztheaterimprovisations-Gruppe gekommen, die mich schon nach kurzer Zeit faszinierte. Ich beschloss, meine Studien in diese Richtung zu lenken und begann bald mit dem Rhythmikstudium, in dem musikalische Improvisation und die Bewegungsimprovisation Hauptfächer sind.

Für einige Semester war mein Wissensdurst gestillt. Ich lernte begeistert, sog die vielen Angebote des Studiums gierig auf und hatte nach meinem Examen das Gefühl, sehr viel gelernt zu haben.

Dann aber fiel ich– wie viele andere Absolvent/innen des Rhyhtmikstudiums auch– in ein „Loch“. Mein Wissen erschien mir oberflächlich: Ich war an kaum einer Stelle wirklich in die Tiefe gegangen. Ich hatte das Bedürfnis mich zu spezialisieren und irgendetwas „richtig“ zu lernen. Viele Rhythmiker studieren daher weiter, meist im musikalischen Bereich, indem sie sich auf ein bestimmtes instrumentales Hauptfach konzentrieren. Bei mir ging die Entwicklung in eine andere Richtung. Was mir persönlich trotz guter Ansätze im Rhythmikstudium fehlte, war eine überzeugende Bewegungstechnik, die Differenzierung des Raumes in der Gruppenimprovisation sowie eine konsequente und überzeugende künstlerische Arbeit.

Vieles davon entdeckte ich in den Bereichen Tanz und Theater. Ich begann noch einmal an der Folkwangschule zu studieren und belegte für fünf Semester den Studiengang Pantomime, in dem mich am meisten das Fach „Moderner Tanz“ interessierte. Seitdem habe ich bis heute zahlreiche Kurse, Workshops und Fortbildungen besucht, vor allem in den Fächern Modern Dance, New Dance, Improvisationstheater, Freier Tanz, Ballett und Butoh.

Auch für die Improvisation bekam ich gute Anregungen in den Bereichen Tanz und Theater. Eins aber, was ich in der Rhythmik kennengelernt hatte, fehlte fast vollkommen: Die Tanzimprovisation in der Gruppe. Gerade die interessierte mich aber am meisten. Die Rhythmik bot mir hervorragende Ansätze für die Gruppenimprovisation, allerdings waren die Möglichkeiten längst nicht ausgeschöpft oder systematisiert und die Grenzen nicht erforscht.

Ganz anders stellte sich die Situation in der Jazzmusik dar, die für mich zu einem Vorbild wurde. Hier sah ich eine seit Langem anerkannte, systematisierte Improvisationskunst, in der die Gruppenimprovisation hervorragend funktionierte: Die Musiker waren mühelos in der Lage, sich aufeinander einzustimmen und musikalische Ideen über lange Strecken gemeinsam zu entwickeln. Weder in der Rhythmik noch in der Tanzimprovisation konnte ich etwas Vergleichbares finden: Die Improvisation in der Gruppe zeigte Mängel (s. Abschnitt 1.5.).

Da ich niemanden fand, der mir weiterhelfen konnte, erforschte ich die Gruppenimprovisation in Eigenregie. Schon 1983 hatte ich begonnen, Gruppen zu unterrichten und mit ihnen zu experimentieren. Anfangs waren es selbständig organisierte Gruppen und bald Kurse an städtischen Musikschulen in den Bereichen Rhythmik und Tanz. Von 1990 bis 1992 arbeitete ich mit Rhythmikstudent/innen an der Hochschule in Detmold. Seit 1992 leite ich Gruppen in meinem Studio SCALA11 in Essen-Werden (s. Foto 2) und nenne meine Arbeit „Tanztheaterimprovisation“ oder abgekürzt, aber fachlich leider nicht korrekt, einfach „Tanztheater“.

Im Jahr 1997 gründete ich ein Ensemble professionell arbeitender Künstler, überwiegend Tänzer, die ich bis zum Jahr 2000 neben meinen Kinder- und Amateurgruppen leitete. Mit dieser Gruppe entwickelte ich meine Improvisationsarbeit weiter, fand praktische Realisierungsmöglichkeiten für lange geplante Ideen und Antworten auf Fragen, die mich jahrelang beschäftigt haben. Zum ersten Mal trat ich auch öffentlich als Improvisationsbegleiter auf. Der Improvisationsbegleiter bereichert die Tanztheaterimprovisation v.a. durch spontane Musikeinspielungen und durch spontane Ansagen. Die Arbeit des Improvisationsbegleiters beschreibe ich ausführlich im fünften Kapitel.
In denselben Jahren entwickelte sich die Idee, dieses Buch zu schreiben, welches die Ergebnisse von zwanzig Jahren Forschungsarbeit zusammenfasst.

1.4. Zentrale Fragestellung

Die wichtigste Frage, die ich bei meiner Forschung verfolgt habe, ist:
Was kann man tun, damit Tanzimprovisationen in einer Gruppe zu schlüssigen und künstlerisch überzeugenden Ereignissen werden?

Oder anders formuliert:
Wie kann eine Gruppe von Tänzern so schlüssig zusammen improvisieren, wie Jazzbands es praktizieren?

Was ich mit „künstlerisch überzeugend“ oder „schlüssig“ meine, ergibt sich aus dem nächsten Abschnitt, in dem ausgeführt wird, was ich als nicht schlüssig oder künstlerisch nicht überzeugend bezeichne.

1.5. Mängel der Tanzimprovisation

Folgende Punkte habe ich als Hauptmängel der Tanzimprovisation in der Gruppe ausgemacht:

1) Ungestalteter Verlauf der Improvisation,
2) Mangelndes Zusammenspiel der Tanzenden.

Mit dem ungestalteten Verlauf einer Improvisation meine ich vor allem eine Zusammenhanglosigkeit der Themen im Laufe der Improvisation und daraus resultierende „Spannungslöcher“.

Das mangelnde Zusammenspiel der Tanzenden (Punkt 2) bei Gruppenimprovisationen äußert sich ebenfalls in Zusammenhanglosigkeit, wobei diese nicht nur eine disharmonische Aufeinanderfolge der Themen, sondern auch die gleichzeitige Disharmonie von Themen verschiedener Tänzer an verschiedenen Stellen des Raumes betrifft. Wenn sich aber verschiedene Themen im Raum „beißen“, lässt eine sinnvolle Raumaufteilung lange auf sich warten und ergibt sich nur zufällig dann und wann. Der dritte Mangel lautet also:

3) Fehlen einer sinnvollen Raumaufteilung.

1.6. Ursachen der Mängel als Ansatzpunkte für Innovationen

Die drei Hauptmängel der Tanzimprovisation in der Gruppe sind „Symptome“, die sich beim Üben nicht direkt beheben ließen. Die Improvisationen wurden im Laufe der Proben zwar besser, oder anders gesagt: einzelne „Symptome“ konnten „kuriert“ werden, traten aber später, in anderen Zusammenhängen, wieder auf, wie bei einer Krankheit, deren Herd nicht behandelt wurde. Langsam kam ich dahinter, worin die „Krankheitsherde“, also die Ursachen der Mängel, bestehen:

  • Ein falsches Verständnis von der Freiheit der Improvisierenden,
  • Mangelnde Verständigungsmöglichkeiten der Improvisierenden in Gruppenimprovisationen,
  • Mangelnde Technik des Zusammenspiels.

In den nächsten drei Abschnitten (1.6.1. bis 1.6.3.) werden die „Krankheitsherde“ näher untersucht, und es wird aufgezeigt, mit welchen Innovationen man ihnen begegnen kann.

1.6.1. Falsch verstandene Freiheit

Das falsche Verständnis von der Freiheit der Improvisierenden kann aus zwei Perspektiven betrachtet werden: aus der Sicht der Improvisierenden und aus der Sicht der Improvisationslehrer, auf die zunächst eingegangen wird.

In den Augen vieler Bewegungsimprovisations- oder Tanzimprovisations-Lehrer hat der „kreative Prozess“ eine Art „Heiligenschein“, den man keinesfalls berühren darf. Es ist für sie ein Tabu, das persönliche Erleben des Improvisierenden zu beeinflussen. Die Freiheit der improvisatorischen Äußerungen gilt ihnen als unantastbar. Nüchterne Kritik oder Verbesserungsvorschläge sind kaum üblich. Sie werden oft gar nicht geäußert. Wenn sie aber zur Sprache kommen, passiert dies meist übervorsichtig und meiner Ansicht nach viel zu spät, das heißt, erst nach Abschluss von oft ermüdend langen Improvisationen. Auf diese Weise ist es natürlich nicht möglich, improvisieren zu üben, das heißt, aus den Erfahrungen vorangegangener Improvisationen möglichst viel zur Verbesserung der darauffolgenden zu lernen.

Diese Tabus gelten für mich schon lange nicht mehr. Erstens unterbreche ich Improvisationen meiner Schüler häufig, wenngleich möglichst einfühlsam. So kann ich sie durch abgeänderte Aufgabenstellungen in eine andere Richtung lenken, Probleme thematisieren oder Verbesserungsvorschläge formulieren.

Zweitens habe ich mir seit etwa 1984 angewöhnt, auf die laufende Improvisation einzuwirken, während die Tänzer weiter improvisieren. Das passiert entweder durch musikalische Anregungen oder durch verbale Ansprache der Tanzenden. Sowohl durch die Musikeinspielungen als auch durch das Ansprechen der Tänzer kann ich spontan das Improvisationsgeschehen mit gestalten. Hieraus hat sich im Laufe der Zeit ein Zusammenspiel zwischen mir– in der gerade beschriebenen Rolle, die ich „Improvisationsbegleiter“ nenne– und den Improvisierenden entwickelt. Dieses Zusammenspiel wird im fünften Kapitel beschrieben („Improvisationsbegleitung“).
Nun zu der Sicht der Improvisierenden. Bei ihnen äußert sich das falsche Verständnis von der Freiheit der Improvisation in der Überbetonung des Wunsches, sich zu erfahren und sich frei auszudrücken. Meine Schüler haben aber immer wieder mit mir entdeckt, dass die Möglichkeit, sich frei auszudrücken, schnell zu einem Zwang wird, dass also die Freiheit in die Enge führt. Umgekehrt haben wir beobachtet, dass die ungezwungensten, freiesten Improvisationen durch längere Phasen genauster Improvisationsvorgaben ausgelöst wurden, dass also die „Gebundenheit“ zur Freiheit führt. Aus derartigen Erfahrungen erwuchs eine innere Einstellung für die Improvisierenden, die ich im zweiten Kapitel des Buches beschreibe: Die „Kunst des Fügens“.

Wie kann nun die Gebundenheit, die die Improvisierenden benötigen, praktiziert werden? Was können die Tänzer tun, worin sich die Gebundenheit zeigt? Hier ist zunächst die Beschäftigung mit der Technik des Improvisierens zu nennen (vgl. 1.6.3). Auch die musikalischen und verbalen Angebote des Improvisationsbegleiters können den Tänzern als Gerüst zur Improvisation dienen. Besonders ist hier aber das Improvisationskonzept zu nennen.

Das Improvisationskonzept ist ein Rahmen, innerhalb dessen sich die Improvisation entwickelt. Das Improvisationskonzept wird vor der Improvisation in Form von Vorgaben festgelegt. Es gibt der Improvisation ein Gerüst, einen inneren Halt und Aufbau, der sie künstlerisch bereichert. Der Rahmen von Vorgaben ist für die Improvisierenden bindend und bewahrt sie genau wie die Beschäftigung mit der Improvisationstechnik und mit den Angeboten des Improvisationsbegleiters vor einer Überbetonung der Freiheit.

Der Rahmen des Improvisationskonzeptes kann unterschiedlich weit gesteckt sein. Ich habe folgende Unterscheidungen eingeführt: Freie Improvisationen (ohne Vorgaben), Improvisationen zu Aufgabenstellungen, teilweise ausgearbeitete Improvisationen und weitgehend ausgearbeitete Improvisationen. In meiner Lehrzeit gab es derartige Unterscheidungen noch nicht. Wende ich meine heutige Terminologie auf die damaligen Improvisationen an, so zeigt sich, dass die Spannbreite seinerzeit eher spärlich war: Es gab fast nur Improvisationen zu einfachen Aufgabenstellungen. Freie Improvisationen kamen seltener vor, ausgearbeitete Improvisationen fast gar nicht.

So viel vorerst zum Improvisationskonzept, auf das im folgenden Abschnitt noch näher eingegangen wird.

1.6.2. Mangelnde Verständigungsmöglichkeiten

Als zweiten Grund für die Mängel der Tanzimprovisation habe ich „mangelnde Verständigungsmöglichkeiten der Improvisierenden in Gruppenimprovisationen“ genannt. Im Gegensatz zu improvisierenden Musikern, bei denen jeder das Spiel der anderen hören kann,– was teilweise aufwendige Monitoranlagen erfordert– haben Tanzende nur begrenzte Möglichkeiten sich gegenseitig wahrzunehmen. Steve Paxton beschreibt das Problem folgendermaßen: „In einer Soloimprovisation hat der Tänzer eine gewisse Kontrolle darüber, wo im Raum die Energie ist. In der Duett-Improvisation ergibt sich das Problem, daß der andere Tänzer hinter dir ist, und du weißt nicht, wie die Energie gerade ist, ob du gerade harmonisierst oder dissonant agierst oder irrelevant bist. In einer Gruppe ist dieses Problem noch komplexer: in einer Situation, in der du über große Zeitstrecken nicht weißt, wo ein Drittel der Tänzer sich befindet.“

Man stelle sich vor, wie Jazzmusik klingen würde, wenn die Musiker sich nur ausschnitthaft hören würden: Zusammenhanglos, dissonant und rhythmisch nicht koordiniert. So ähnlich habe ich nicht selten Tanzimprovisationen erlebt. Hier setzt einer der wichtigsten Aspekte meiner Forschung an. Es geht darum, die Defizite auszugleichen, die Improvisierende im Tanz gegenüber improvisierenden Musikern haben. Der Ausgleich kann prinzipiell auf zweierlei Arten erfolgen:

  • Die vergleichsweise knappen Informationen, die die Tänzer während der Improvisation voneinander erhalten, müssen sie in möglichst hohem Maße für das Zusammenspiel nutzen. Das bedeutet: Sie müssen den Informationen das Wesentliche schnell entnehmen und schnell darauf reagieren. Diese Aspekte werden in Kapitel 3 (Einblick in die Technik der Tanztheaterimprovisation) behandelt. Hierzu gehört auch das schnelle Wahrnehmen und Reagieren (vgl. v.a. 3.2 und 3.4).
  • Durch den Improvisationsbegleiter, der selber improvisiert, kommt ein Spieler hinzu, der ständig die Improvisation in ihrer Gesamtheit überblickt. Er kann daher den Tänzern helfen, indem er ihnen beispielsweise alles verbal mitteilt, was sie nicht sehen, was aber ein sinnvolles Zusammenspiel ermöglichen könnte. Die Arbeit des Improvisationsbegleiters wird im fünften Kapitel thematisiert.

Kurz gesagt: Gemäß meinen Erfahrungen können die Defizite, die die Improvisierenden im Tanz gegenüber Musikern haben, durch gut geschultes und schnelles Erfassen und Reagieren in der Gruppe sowie durch das Mitwirken des Improvisationsbegleiters ausgeglichen werden.

Das Arbeiten mit einem Improvisationskonzept, das ich im letzten Abschnitt bereits umrissen habe, ist ein weiteres Mittel, ein harmonisches Zusammenspiel zu ermöglichen. Ein Improvisationskonzept enthält hilfreiche Vorgaben für das Spiel von einzelnen oder mehreren Improvisierenden. Je mehr vorher festgelegt wird, desto weniger ist improvisiert. Oder umgekehrt gesagt: Alles, was nicht festgelegt ist, ist improvisiert. Der Improvisierende muss umso mehr Aufmerksamkeit dem Spiel der anderen widmen,– um weiterhin mit ihnen zu harmonieren– je mehr die anderen improvisieren. Die Vorgaben dagegen geben Zeit zum „Ausruhen“, da sie allen bekannt sind. Das „entstresst“ die Improvisation.

Die Jazzmusik nutzt Vorgaben daher in starkem Maße. Die Tanzimprovisation aber, die es aufgrund der genannten Defizite eigentlich „noch nötiger hätte“, begnügt sich eher mit vagen Vorbereitungen. Wie ich Improvisationen vorbereite, beschreibe ich im vierten Kapitel des Buches mit dem Titel „Improvisationskonzepte“.

1.6.3. Mangelnde Technik des Zusammenspiels

Als dritten „Krankheitsherd“, der die Mängel der Tanzimprovisation auslöst, habe ich die „mangelnde Technik des Zusammenspiels“ genannt. In der allgemeinen Praxis der Bewegungs- oder Tanzimprovisation wird zwar durchaus Improvisationstechnik vermittelt, ich wage aber zu behaupten, dass diese Technik weit mehr der Improvisation des einzelnen nützt als einer schlüssigen Gruppenimprovisation. Eine fundamentale Technik, die der Gruppenimprovisation einen sicheren Halt geben könnte, sehe ich darin zumindest nicht.

Daher habe ich mit der Zeit die „Technik der Tanztheaterimprovisation“ (s. Kapitel 3) entwickelt, die sich in sechs Bereiche aufteilt, von denen drei die Technik des einzelnen betreffen und drei weitere vor allem die Technik des Zusammenspiels. Diese letzten drei Bereiche gehen direkt auf die genannten Hauptmängel der Gruppenimprovisation ein, wie die folgende Gegenüberstellung zeigt:

  • Der Bereich „Gruppenimprovisation“ (s. Abschnitt 3.2.) kann wirkungsvoll das „mangelnde Zusammenspiel der Tanzenden“ verhindern.
  • Der Bereich „Raumgestaltung“(s. Abschnitt 3.3.) wirkt dem „Fehlen einer sinnvollen Raumaufteilung“ entgegen.
  • Der Bereich „Zeitgestaltung“ (s. Abschnitt 3.4.) beugt einem „ungestalteten Verlauf der Improvisation“ vor.

Zum Schluss dieser Einleitung hoffe ich, dass alle Innovationen, die ich bisher nur angedeutet habe, durch die folgenden Ausführungen anschaulich und nachvollziehbar erklärt werden können. Weiter bleibt mir zu hoffen, dass die Behauptungen, die diese Einleitung mal offenkundig, mal zwischen den Zeilen enthält, verständlich werden und nachträglich eine Untermauerung erfahren.

1.7. Zusammenfassung der Einleitung

Anliegen des Buches:
Das Anliegen dieses Buches ist, etwas von der Kunstfertigkeit und dem Leistungsvermögen der Tanztheaterimprovisation zu vermitteln.
Schwerpunkt der Betrachtung:

Tanztheaterimprovisation in der Gruppe

Fragestellungen:

  • Was kann man tun, damit Tanzimprovisationen in einer Gruppe zu schlüssigen und künstlerisch überzeugenden Ereignissen werden?


Oder anders formuliert:

  • Wie kann eine Gruppe von Tänzern so schlüssig gemeinsam improvisieren, wie Jazzbands es praktizieren?


Beobachtete Hauptmängel der Tanzimprovisation in der Gruppe:

  • Ungestalteter Verlauf der Improvisation
  • Mangelndes Zusammenspiel der Tanzenden
  • Fehlen einer sinnvollen Raumaufteilung


Ursachen für die Mängel:

  • Ein falsches Verständnis von der Freiheit der Improvisierenden
  • Mangelnde Verständigungsmöglichkeiten der Improvisierenden in Gruppenimprovisationen
  • Mangelnde Technik des Zusammenspiels


Innovationen zur Behebung der Mängel und Ursachen:

  • Entwicklung einer neuen Einstellung der Improvisierenden: „Die Kunst des Fügens“ (s. Kapitel 2)
  • Entwicklung der „Technik der Tanztheaterimprovisation“, welche auch die Technik des Zusammenspiels beinhaltet (s. Kapitel 3)
  • Systematisches Vorbereiten von Tanztheaterimprovisationen in Form eines Improvisationskonzeptes (Kapitel 4)
  • Die Entwicklung der Arbeit des Improvisationsbegleiters (Kapitel 5)

19.01.25

Tanztheater SCALA11

Lecture Performance

Bundeskunsthalle, Bonn
15- 17 Uhr

Tanztheater/ Zeitgenössischer Tanz

Ronald Blum, Pionier der Bühnen-Improvisation und Direktor des Studios SCALA11, leitet eine Probe mit ca. 20 Kindern, Jugendlichen & Erwachsenen inmitten der Ausstellung. Aus verschiedenen Moves, Choreographie-Ausschnitten und geleiteten Improvisationen entsteht vor den Augen der Besucher ein Stück. Dabei demonstriert Ronald Blum u.a. die von ihm entwickelte Methode des „Dirigierten Tanzes“: Wie durch Magie kommen die Tanzenden in einen endlos scheinenden Flow, der zu intensiven künstlerischen Ergebnissen führt. Interessierte Gäste können gerne mitmachen und werden mit einfach zu realisierenden Beiträgen passend in die Performance integriert. 

demnächst